Vom System betrogen.

Wie Horváths Figuren zu Pessimisten wurden.

Valerie Kristin Gaber


Wer ist der Mensch in Horváths Texten – oder vielleicht noch besser gefragt: Was denken diese Menschen, was und wer sie sind, als Individuum und als Spezies? Welche Sicht auf die Spezies Mensch haben Figuren wie Kasimir und Karoline, Strasser oder Ada? Sind sie Romantiker, Rationalisten, Marxisten? Leitet sie die Vernunft oder das Gefühl?
Von der Antike an taucht die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist immer wieder in der Philosophie auf. Prominent formulierte das Körper-Geist-Problem Descartes und später auch Hegel. Doch nicht nur die großen Philosophen beschäftigen sich mit dem Körper und dem Geist, auch die Figuren in Horváths Stücken haben eine Meinung zu diesem Begriffspaar.
So ist es doch bezeichnend, dass Max in Zur schönen Aussicht verzweifelt seine Schuhe sucht, denn was ist er denn schon, so mit nackten Füßen? Wohl kaum ein echter Mensch.

MAX  Ich bin nur froh, daß ich endlich meine Schuhe wieder habe.
  Man ist ja sogleich ein anderer Mensch.

Aber nicht nur ein akzeptabel hergerichtetes Äußeres ist ausschlaggebend, die Seele bekommt ihren ganz eigenen Wert.

ADA  Es gibt keine Toten. Wir Menschen haben eine unsterbliche Seele.
STRASSER  Die Alte behauptet, er hätte eine reine Seele.
KARL  Aber dreckige Füße.

Da ist er, der Dualismus von Körper und Geist. Von dem Fleisch und der Seele. Was wichtiger ist, wird deutlich, als Ada Strasser fragt, was er an ihr liebe, doch wohl nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele? Denn die Seele, so scheint es, erhöht den Menschen noch über den Menschen, macht ihn unter Umständen besser als einen anderen.

EMANUEL  Ada. Ich komme zu dir nicht nur als Mensch zu Mensch. (…)
  Als Mensch möcht ich jetzt tot umfallen, aber als Kavalier muß ich mich
  degradieren lassen.

Doch sicherlich ist er besser als ein Tier.

MÜLLER  Ich kauere nicht. Kauern tut ein Tier. Ich sitze.
  Man ist doch immerhin noch ein Mensch (…)
  Ordnung fehlt! Und Zucht! Und der starke Mann!

Welchen Ansatz verfolgt Müller hier? Welches Denken steht dahinter? Platon wird es nicht sein, denn dieser bezeichnete mit Natur eine Ordnung, die Müller abzulehnen scheint. Immerhin unterscheidet der Mensch sich ganz deutlich vom Tier und damit von der Natur. Nun muss also der starke Mann die Ordnung bringen.

Das erinnert eher an den Ausspruch, der durch Hobbes in den Sprachgebrauch übernommen wurde: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Denn hier ist die Natur das Böse, in ihr ist der Mensch nur Egoist und um sein eigenes Wohl besorgt, immer darauf bedacht, nach mehr zu streben. Erst die Vernunft und die Ordnung durch Regeln können diesen Egoismus züchtigen und ein Leben in der Gemeinschaft möglich machen.
Diese Auffassung wird allerdings in Kasimir und Karoline relativiert.

KAROLINE  (…) Die Menschen sind halt überall schlechte Menschen.
SCHÜRZINGER  Das darf man nicht sagen, Fräulein! Die Menschen
  sind weder gut noch böse. Allerdings werden sie durch unser heutiges
  wirtschaftliches System gezwungen, egoistischer zu sein,   als sie es
  eigentlich wären, da sie doch schließlich vegetieren müssen.

Vielleicht kommen hier Lockes Doktrin vom Geist als „tabula rasa“ ins Spiel. Immerhin, der Mensch als leeres Gefäß, das erst gefüllt werden muss, ist damit weder gut noch schlecht. Eine Auffassung, die spätere Philosophen, wie Helvetius und andere, übernahmen. Somit ist der Mensch Produkt seiner Erziehung, Umgebung und Erfahrung. Doch selbst wenn dann immer noch die Notwendigkeit eines regulierenden Systems bestünde, das den Menschen davon abhält, rein egoistisch zu handeln, so hätte er es nun vollbracht, dass dieses in pervertierter Form gerade wieder dazu anhält, egoistisch zu handeln – also genau das Verhalten auslöst, welches es zu verhindern galt. Und ist es nicht bezeichnend, dass es gerade das wirtschaftliche System ist, das hier den Menschen wieder in sein Unglück stürzt, wie es Ada so trefflich formuliert?

ADA  Das ist kein Kellner! Das ist kein Chauffeur! Das sind standesgemäße
  Personen! Die scheinen nur zum niederen Volke zu gehören, weil sie
  Unglück hatten. (…) Die zählen nicht zum Volke, zur Masse, zum Plebs!

Die Ökonomie reißt Wunden in den Stand und macht aus gehobenen Leuten Teile der Masse, Teile des Volkes. Oder in den Worten von Marx: Sie machte aus Mitgliedern der Bourgeoisie das Proletariat, oder heute: aus einem Arbeitgeber einen Arbeitnehmer. Dieses Unglück beklagt auch Kasimir beim Anblick des Zeppelins.

KASIMIR  (…) Da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne und herunten
  verhungern derweil einige Millionen! (…) ich kenne diesen Schwindel (…)

Und ist es nicht ein passendes Bild, dass gerade ein Zeppelin, eine technische Maschine, die hoch oben durch den Himmel gleitet, diese Überlegungen auslöst? Oben die hohe Gesellschaft, während das Volk am Boden kaum Geld hat. Und ohne Geld, was ist man da? Wohl kaum frei, wenn man von jedem gekauft werden kann.

ADA  Du bist mein Eigentum, du!
  Ich habe dich gekauft, und ich kaufe dich jeden Tag!
  Ich bezahle! (…)

Immerhin, nach Marx macht der arbeitende Körper Geschichte, allerdings nicht aus freien Stücken, schon gar nicht selbst gewählt, sondern unter gegebenen, vorgefundenen und überlieferten Umständen. Kann man es da Kasimir verübeln, dass er der Meinung ist, jeder intelligente Mensch müsse heutzutage Pessimist sein?

Ein Trugschluss, der Mensch würde rational und aufgeklärt handeln! Innere (und oft egoistische) Motive treiben den Menschen an, machen ihn zu einer wankelmütigen Gestalt, die oft das Opfer im eigenen Leben spielt. Das Leben ist der Gegner, der das Individuum in die Knie zwingt. So begründet Schopenhauer den Pessimismus und macht zum Ursprung des Seins den blinden Willen. Und ist es nicht genau dieser blinde Wille, der Karoline antreibt, Kasimir wütend zu machen? Sind es nicht diese Motive, die die beiden entzweien und niemanden aus der Geschichte als Sieger herausgehen lässt?

Ein Bild entsteht, nämlich von einem Menschen, der sich in Abgrenzung zum Tier erfasst. Als Ordner seines natürlichen Wesens, das durch den Egoismus ein Leben in Gemeinschaft unmöglich machen würde. Doch dieser Mensch ist es auch, der dieses ordnende System ihn übertrumpfen ließ, bis die wirtschaftliche Ordnung das Leben organisierte, Stände verhärtete und das Individuum der vermeintlichen Freiheit beraubte – denn der Mensch ist durch Geld käuflich. Und in seinem Elend muss er einsehen, dass er doch das menschliche Sein nicht ordnen konnte, sondern der Wille über den Verstand triumphierte und aus Gemeinschaft Gesellschaft wurde – vielleicht am Ende einer Kultur, die dazu verdammt ist, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.


Neue Texte von Studierenden der Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien zur Ausstellung Ich denke ja garnichts, ich sage es ja nur. Ödön von Horváth und das Theater. Theatermuseum, Wien, 15.3.2018-11.2.2019

Neue Texte.PDF

Katalog

€ 35,- (inkl. MwSt.)
ISBN-Nr: 978-3-99027-220-6

to top